Viele Geschichten werden erzählt und weitergegeben, ohne sie jemals zu hinterfragen. Einfach aus dem Grund heraus, dass sie für uns absolut wahr und authentisch klingen. Dennoch lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen und Dinge zu hinterfragen. Denn nicht alles ist richtig, nur weil es richtig klingt.
Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte der Phlebotomie, zu deutsch Aderlass. Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit galt der Aderlass als probates Mittel und von damaligen Medizinern anerkannte Methode, böses Blut zu reinigen, um so alle möglichen Krankheiten auszumerzen. Der wirkliche Nutzen der Behandlung wurde nur selten hinterfragt. So kostete der Aderlass im Laufe seiner langen Geschichte unzählige Menschen das Leben, anstatt den Tod zu verhindern. Diese Tatsache ist uns heute bewusst.
Die größte Lüge in meiner Business School
Eine Geschichte, die sich bereits während meines Wirtschaftsstudiums als eine der verheerendsten Lügen herausstellte, war die Aussage eines meiner damaligen Professoren. Er vertrat die Meinung, dass der wahre Grund für die Existenz von Firmen darin liegen würde, den Shareholder Value des Unternehmens zu erhöhen, also den Wert des Unternehmens gemessen am Kurswert seiner Aktien.
Als ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte, war mein Gedankengang folgender: Shareholder Value wird mittels einer Bilanz gemessen. Mehr Geld und mehr Einnahmen mit gleichzeitig weniger Kosten erhöhen den Shareholder Value. Stimmt es also wirklich, dass Firmen nur deshalb existieren, um den Inhabern mehr Gewinn zu bringen?
Die einzig logische Antwort lautete damals für mich: Natürlich. Was denn sonst? Doch irgendetwas stimmte für mich nicht. Es hat mich fast 15 Jahre gekostet, bis ich darauf gekommen bin, was mir an der Aussage nicht gepasst hat: Die Geschichte ist schlicht falsch.
Geht es den Reichen gut, geht es allen gut?
Shareholder Value ist eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Ideologie der neoliberalen Wirtschaftstheorie. Ihr größte Popularität erreichte sie in den 1980er-Jahren mit der Kernaussage: Geht es den Reichen gut, geht es allen gut. Aber stimmt das wirklich?
Der Shareholder Value ist eine Messgröße, die in erster Linie davon abhängt, wie viel Geld zu diesem Zeitpunkt in einem Unternehmen ist. Will man den Shareholder Value erhöhen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder steckt man sehr viel Geld in die Entwicklung von Produkten oder man investiert deutlich weniger Geld in neue Verpackungen, auf denen man vorgibt, dass das Produkt „new & improved“ sei. Die eine Variante erhöht den Shareholder Value schnell. Die andere schafft es vielleicht in ein paar Jahren. Ich überlasse es Ihnen herauszufinden um welche Variante es sich jeweils handelt.
Um den Shareholder Value zu erhöhen, könnte man natürlich auch seine Fabrik verkaufen und im Gegenzug umgehend anmieten. Ein Gewinn wäre sofort da. Die Shareholder wären zufrieden. In den kommenden fünf Jahren kostet es erst einmal Geld. Aber fünf Jahre sind eine lange Zeit. Niemand kann heute sagen, was bis dahin alles geschieht.
Der Missbrauch von Messgrößen
Shareholder Value ist eine Metrik. Eine Messgröße, die einen Teil des Bildes darstellt, wie gut es dem Unternehmen geht. Doch leider liegt es in der Natur von Messgrößen, dass sie missbraucht werden können. Es ist nachvollziehbar für welchen Weg man sich entscheidet den Shareholder Value zu erhöhen, wenn es zwei verschieden Möglichkeiten gibt. Entweder geht man den schwereren, längeren Weg der Produktentwicklung oder man wählt den leichteren, deutlich kürzeren Weg der Produktlüge.
Der Erfolg eines Managers wird nur daran gemessen, was mit der Messgröße geschieht. Der Rest spielt keine Rolle. Für welchen Weg würden Sie sich entscheiden? Wie würden Sie den Shareholder Value erhöhen, wenn dieser der allein zählende Faktor ist?
Die Lösung
Das einzig Logische, das man in einer derartigen Situation machen kann, wäre, die Messgröße zu verändern. Daher möchte ich eine neue Messgröße ins Gespräch bringen. Eine Messgröße, deren Anspruch lautet, uns als Gesellschaft näher an das eigentliche Ziel zu bringen: Ein gutes Leben für alle.
Aber was genau wäre denn diese neue, innovative, wunderbare und noch nie dagewesene Messgröße? Um es klar auszudrücken: Die Messgröße ist gar nicht so neu. Es ist, um es genauer zu sagen, sogar die älteste Messgröße in der Wirtschaftsgeschichte, vom Tauschgeschäft bis zum Bitcoin. Wir haben diese nur verdrängt und uns in der Zwischenzeit einfach Lügengeschichten erzählt und ihnen geglaubt.
Der Mehrwert für den Kunden
Der wahre Grund, warum Firmen existieren, ist, weil sie für ihre Kunden einen Mehrwert schaffen wollen. Dies bedeutet, hätte ein Kunde sein Geld behalten oder sich etwas anderes gekauft, wäre der Kunde nicht so glücklich wie er es jetzt ist, weil er bei der Firma gekauft hat. Die Firma hat also einen Mehrwert generiert. Beim Kunden und in der Gesellschaft.
Genau dieser Mehrwert ist es, was wir mit unserem Geld messen. Nicht Gold oder Regierungen geben dem Geld seinen Wert. Erst die Zufriedenheit des Käufers verleiht dem Geld Wert.
Wie aber funktioniert dieser Prozess des „Wert-gebens“ in den Köpfen der Käufer? Eigentlich ganz einfach, denn es gibt nur eine einzige Frage, die beantwortet werden muss: Ist das Produkt, das Investment wert?
Diese Frage splittet sich in drei Unterkategorien:
- Mehrwert: was ist der Mehrwert (des Produktes) für mich? Welches Problem löst es? Habe ich das Problem überhaupt? Und was sind meine Alternativen?
- Wahrscheinlichkeit: Vertraue ich der Firma? Glaube ich an das Produkt? Wie sicher ist es, dass das Produkt mein Problem löst? Haben es andere auch schon probiert?
- Kosten: Was kostet es? Wie viel Arbeit habe ich dadurch? Was sind die zusätzlichen Aufwände?
Diese Fragen tauchen immer wieder auf. Egal, ob Sie ein Shampoo, ein Auto oder eine orbitale Trägerrakete kaufen wollen. Hier ein paar Beispiele:
Beispiel Shampoo
- Mehrwert: Brauche ich ein Shampoo? Welches Shampoo brauche ich?
- Wahrscheinlichkeit: Kenne ich das Shampoo schon? Wurde es mir empfohlen?
- Kosten: Wie viel kostet es? Gibt es irgendwelche zu erwartenden Probleme?
Beispiel Orbitale Trägerrakete
- Mehrwert: Brauche ich eine Rakete? Was für eine Rakete brauche ich? Was werden andere über mich denken?
- Wahrscheinlichkeit: Wer stellt die besten Raketen her? Was fliegen andere?
- Kosten: Welche Rakete macht weniger Probleme? Wie Viel kostet das? Wie hoch sind die laufenden Kosten?
Sie sehen: Die Struktur ist immer gleich. Nur ist bei der Anschaffung einer orbitalen Trägerrakete der Aufwand etwas höher.
Fragen und Antworten
Ein ganz ähnliches Problem mit der Messgröße stellt der Kundenmehrwert dar. Er ist nicht klar messbar. Zu Beginn hat man noch traumhaft simple Zahlen, auf die man hinarbeiten kann (345 Stück für 234,- € verkauft). Doch im nächsten Schritt muss man sich fragen, warum jemand das Produkt gekauft hat. Möglicherweise, weil sich die Person gerade so gefühlt hat. Aber was hat sich die Person dabei gedacht? Tja, das ist die große Frage. Denn woher soll man das wissen? Eine gute Möglichkeit, um es herauszufinden, wäre, die Person direkt zu fragen. Denn nur sie selbst weiß die Antwort.
Genau das macht den Job eines guten Verkäufers aus: Fragen zu stellen, die Antworten zu verstehen und Produkte mit den richtigen Argumenten zu präsentieren. Kurz gesagt, die Probleme der Kunden verstehen, ernst nehmen und lösen. Ein guter Verkäufer hat all das im Gefühl. Denn ein Verkaufsgespräch ist nichts, das sich in bestimmte Regeln pressen lässt. Dazu ist der Gesamtvorgang viel zu komplex.
Messen lässt sich nur das Endergebnis. Der Weg bis zur Kaufentscheidung ist komplex und für jeden einzelnen Käufer individuell verschieden. Es lässt sich also nichts optimieren.
Der Verkäufer für den Onlineshop
Wir haben uns gefragt, wie man vorgehen muss, um diese Problematik tatsächlich ernsthaft angehen zu können. Eigentlich müssten wir dazu jedes einzelne Produkt verstehen und automatisch ähnliche Produkte gruppieren. Anschließend müssten wir potentielle Kunden zu ihren Bedürfnissen befragen.
Wir müssten auf die Antworten eingehen und die passenden Folgefragen stellen. Nachfolgend müssten wir das passendste Produkt vorschlagen und mit den richtigen Verkaufsargumenten präsentieren. Wir müssten abwarten, wie die Kunden darauf reagieren und ob sie das Produkt wirklich kaufen.
Eine AI müsste lernen, welche Kundengruppen es gibt, welche Bedürfnisse diese gemeinsam haben, welche Argumente am erfolgreichsten sind und welche Produkte tatsächlich den Bedürfnissen entsprechen. Die AI muss in der Lage sein, den Menschen verständlich zu erklären, welche Erkenntnisse sie gemacht hat.
Erst dann hätten wir tatsächlich eine zuverlässige Möglichkeit, den wahren Mehrwert für die Kunden zu verstehen, ihn zu messen und immer weiter zu optimieren.
Und dann haben wir genau das geschaffen. Wir nennen es den Fact Advisor.